Warum man ein Freu verschenken sollte

Heute ist mein neuer "All Age"-Roman "Das Freu" erschienen. Aus diesem Anlass veröffentliche ich hier ein kurzes Essay zum Buch, das bereits im Januar im "Piper Reader" erschienen ist.

 

Digitale Medien verzerren den Blick auf unsere Welt und auf uns selbst. Die Logik der „Aufmerksamkeits-Ökonomie“ – jeder Klick, jede Sekunde, die wir den Bildschirm anstarren, ist für die Internetkonzerne Geld wert – führt zu künstlich intelligenten Empfehlungsalgorithmen, die uns besser kennen als wir uns selbst. Sie erzeugt gigantische „Filterblasen“, „alternative Fakten“ und individualisierte Scheinrealitäten, die optimal auf unsere eigenen Wünsche, Neigungen und Ängste abgestimmt sind. Von falschen Werbeversprechen und Starkult zutiefst verunsicherte Menschen starren ängstlich in ihre Instagram-Zauberspiegel und ringen um Aufmerksamkeit und Liebe, indem sie eine perfekte Ego-Show abliefern. Trolle und Hater nutzen diese Unsicherheit aus und fügen ihnen Schmerzen zu, um ihre eigene Unsicherheit und Schmerzen zu übertünchen. Ein krankhafter Narzisst wird US-Präsident und überall auf der Welt peitschen Populisten die Angst und Verunsicherung der Menschen hoch, um sie für ihre finsteren Zwecke auszunutzen.

Kein Zweifel, die Welt, in der wir leben, ist nicht das digitale Wunderland, das wir uns in den Neunzigerjahren erträumt haben. Das World Wide Web hat nicht weltweite Meinungsfreiheit, Demokratie und Frieden gebracht, sondern mancherorts eher das Gegenteil. Soziale Medien scheinen in Wahrheit zutiefst asozial zu sein.

Es liegt nahe, der Digitalisierung die Schuld an dieser Entwicklung zu geben und sich nach der Zeit zurückzusehnen, als Telefone noch einen Hörer hatten, wir alle gleichzeitig die Tagesschau sahen, morgens in der Zeitung blätterten und abends ein gutes Buch lasen oder eine schlechte Fernsehshow ansahen. Doch Technik ist niemals gut oder böse, und Populismus, Ungerechtigkeit und die Verzerrung der Wahrheit gab es lange, bevor das Internet erfunden wurde – man denke nur an die grauenhaften Kriege und Genozide der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

Unser Problem ist nicht künstliche Intelligenz, sondern menschliche Dummheit. Die große Herausforderung unserer Zeit ist es, mit der digitalen Technik richtig umzugehen: ihren Verlockungen zu widerstehen, ohne sie zu verteufeln, ihre Chancen zu nutzen, ohne uns ihr auszuliefern, Spaß zu haben, ohne süchtig zu werden.

Die Schwierigkeiten, die wir damit haben, sind wahrlich nichts Neues. Schon immer haben unsere von der Evolution für eine Welt der Knappheit und Gefahr optimierten Instinkte – Habgier, Maßlosigkeit, Neid, Misstrauen gegenüber Fremden, Angst vor Ablehnung – unserem Glück im Weg gestanden.  Deshalb sind auch die Rezepte, die wir brauchen, um unsere zerstörerischen Impulse zu überwinden, keine neuen Rezepte.  So gesehen ist „Das Freu“ eine uralte Geschichte. Doch sie muss immer wieder neu erzählt und an die sich rasant verändernden Herausforderungen der Wirklichkeit angepasst werden, damit man sie versteht.

Was müssen wir also tun, um in einer Welt digitaler Scheinrealitäten wahres Glück zu finden? Es gibt sicher mehr als eine Antwort auf diese Frage. Meine Antwort jedenfalls lautet: Wir müssen ein Freu finden und es verschenken.

In meinem Roman entdeckt die elfjährige Mafalda eines Tages im Garten ihrer Nachbarin, einer ehemaligen Buchhändlerin, ein seltsames magisches Wesen, das die Gestalt verschiedener Tiere annehmen kann. Man findet dieses „Freu“ nur, wenn man ganz im Hier und Jetzt ist. Man kann es nicht jagen und einfangen, sondern muss warten, bis es von selbst zu einem kommt. Doch das Freu macht nicht nur glücklich, es hat noch eine weitere bemerkenswerte Eigenschaft: Wenn man es verschenkt, verdoppelt es sich.

Kurz darauf bringt Mafaldas Vater ihr einen „Fortunator“ mit, eine Augmented Reality-Brille, die laut Hersteller „das Glück der Nutzer nachweislich um bis zu 233% und mehr steigert“. Der Fortunator „verbessert“ die Realität, indem er ihr Dinge hinzufügt, die gar nicht existieren. Mafalda ist zunächst begeistert von der digitalen Wunderwelt, merkt jedoch bald, dass die Wirklichkeit nicht besser wird, wenn man sie nicht mehr richtig erkennen kann. Zudem stört das Freu die Funktion des Fortunators. Als Mafalda sich dafür entscheidet, die Brille wegzulegen und sich wieder ganz dem Hier und Jetzt zuzuwenden, gerät sie in einen Konflikt mit dem Hersteller der Glücksbrillen, dem mächtigen Konzern True Happiness Corporation.

Das Freu in meiner Geschichte ist ein Zauberwesen, das aus einer vergessenen Zeit stammt, in der die Welt den Menschen noch rätselhaft und magisch erschien. Als es auf moderne Technik trifft, scheint es zu einem unauflösbaren Konflikt zu kommen. Doch am Ende stellt sich heraus, dass es einen Mittelweg gibt, ein Sowohl-als-auch aus maßvoller Nutzung der Technik und Leben im Hier und Jetzt. Und genau dieser Mittelweg kann auch die Lösung für unser sehr reales digitales Glücksproblem sein.

Das Freu steht für die Jahrtausende alte Tradition der Achtsamkeit, der Konzentration auf die Wirklichkeit sowohl der äußeren Natur als auch des inneren Selbst. Es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Achtsamkeit dabei hilft, unsere irrationalen und zerstörerischen Impulse zu überwinden. Sie kann den Blick auf die Wirklichkeit schärfen und somit digitale Illusionen und Scheinwahrheiten als solche entlarven. Vor allem kann sie uns jenen Quell innerer Freude erschließen, den das Freu symbolisiert.

Die eigentliche Magie entfaltet sich jedoch erst, wenn wir diese Freude weitergeben. Wahres Glück entsteht, wenn wir andere Menschen glücklich machen: Geteiltes Freu ist doppeltes Freu. Diese uralte Weisheit, die sich in vielen Religionen und Philosophien wiederfindet, steht konträr dem Konsumismus und Digitalnarzissmus unserer Zeit entgegen. Doch sie funktioniert: Jeder, der schon einmal einen geliebten Menschen zum Lächeln gebracht hat, weiß, dass nichts auf der Welt dieses Glücksgefühl übertreffen oder ersetzen kann.

Wenn wir digitale Medien nicht nutzen, um uns selbst zu überhöhen und andere zu erniedrigen, sondern um anderen Menschen zu helfen und ihnen Freude zu bereiten, dann werden sie zu wahrhaft sozialen Medien und die Freude der anderen zu unserer eigenen. Wenn wir moderne Technik in diesem Sinn maßvoll nutzen und den Kontakt zur Wirklichkeit nicht verlieren, dann gibt es keinen Widerspruch mehr zwischen Digitalisierung und Glück.

Ich möchte mit meinem Buch dazu einen Beitrag leisten. Deshalb sehe ich es, der elfjährigen Protagonistin zum Trotz, nicht als ein reines Kinderbuch an. Es ist eine Fabel über das Glück in digitalen Zeiten, die hoffentlich Menschen jeden Alters erreicht. Und wer weiß, vielleicht findet ja der eine Leser oder die andere Leserin darin ein Freu – und verschenkt es weiter. Das würde mich sehr glücklich machen!

 

Das Freu bei Amazon

Das Freu bei Thalia

Das Freu bei Buecher.de

Kommentar schreiben

Kommentare: 0